Was ist Biografiearbeit?
Biografiearbeit ist das Ergründen der eigenen Lebensgeschichte in all ihren Facetten, mit dem Ziel der Identitätsfindung und -festigung. Sie dient der Beantwortung zentraler Fragen: „Wer bin ich, wo komme ich her.
Für Adoptiv- und Pflegekinder geht es darum, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren, Krisen, Wendepunkte, schmerzliche Erfahrungen zu verarbeiten, um sie stark für die Gegenwart und Zukunft zu machen.
Dieses Verständnis von der Bedeutung der Biografiearbeit für Adoptiv- und Pflegekinder ist eine relativ wichtige Entwicklung. Wohl auch deshalb hört man immer wieder von Adoptierten, die ein schwieriges oder gar zerrüttetes Verhältnis zu ihren annehmenden Eltern haben/hatten: weil ihnen Hilfe bei der Identitätsfindung fehlte. Weil keine Türen geöffnet, sondern Mauern errichtet wurden, um unangenehme Wahrheiten von Kindern und Eltern fernzuhalten. Weil auf diese Weise kein starkes (Selbst-)Vertrauen entstehen konnte, das in schwierigen Zeiten Halt gegeben hätte?
Wir helfen ebenfalls dabei, Lücken in der Lebensgeschichte zu füllen.
Zur Biografiearbeit gehören das Sammeln, Einordnen und Besprechen wichtiger Lebensereignisse .
Was gehört alles zur Biografie?
Jede Lebensgeschichte hat verschiedene Erzählstränge:
- die soziale Biografie, die bei Adoptiv- und Pflegekindern das Zusammenleben in mehreren Familien beinhaltet und sich zum Beispiel mit einem Genogramm visualisieren lässt
- die Kultur-Biografie, die sowohl die „große Kultur“, also Musik, Literatur, bildende Kunst etc. umfasst, als auch die Alltagskultur, also die Art oder Stil der Lebensführung eines Menschen
- die Natur-Biografie, womit die „eigene“ Natur, also die des Körpers, ebenso gemeint ist wie die Geschichte eines Menschen in und mit der Natur, die ihn umgibt
- die Mytho-Biografie, also die Weltanschauung, der Glauben, die ideologische Prägung eines Menschen. (Vgl. Hubert Klingenberger, siehe unten)
Diese Vielfalt von Perspektiven lässt schon erkennen, dass auch Kinder mit einer schwierigen Geschichte nicht nur negative, sondern sicher auch positive Erfahrungen zusammentragen können.
Themen der Biografiearbeit :
Wie erkläre ich dem Kind, wer all die Leute sind, die in unserem Familienleben mitmischen?
Wie erkläre ich dem Kind schwierige Themen, z.B. Drogensucht, Gefängnisaufenthalte, Gewalt in der leiblichen Familie?
Was, wenn verlässliche Informationen fehlen? (Das Kind war durch anonyme Geburt zur Welt gekommen.)
Auch ein Jugendamt ist nicht allwissend, leibliche Eltern und andere Verwandte können verschwunden oder gestorben sein … Solche Wissenslücken sind und bleiben ein Verlust für das Kind.
Wie gehen wir damit um, wenn das Kind von außen unangenehme Fragen oder negatives Feedback bekommt?
Die „besondere“ Familienkonstellation ist manchmal für Außenstehende offensichtlich, etwa bei einer Regenbogenfamilie oder wenn die Familienmitglieder unterschiedliche Hautfarben haben. Selbst ein abweichender Nachname, an sich eine unspektakuläre Sache, kann Fragen aufwerfen. „Hast du keine RICHTIGEN Eltern?“
Ein Ziel der kontinuierlichen Biografiearbeit ist es, das Kind stark zu machen, damit es in solchen Situationen die Dinge geraderücken und Vorurteilen souverän entgegentreten kann. „Keine Tabus“ heißt nicht, dass das Kind seine Geschichte auf dem silbernen Tablett servieren soll. Es bedeutet vielmehr Offenheit nach innen und Schutz der Privatsphäre nach außen. Eltern und Kinder können gemeinsam eine „Cover-Story“ entwickeln, die (oft auch wohlmeinende) Fragen von Außenstehenden knapp und freundlich beantwortet, ohne Intimes preiszugeben. Kinder sollten üben, auf diese Weise allzu übergriffige Fragen abzuwehren oder an Erwachsene zu delegieren. („Frag doch meine Mama“).



